Frau Herrmann
Verfasst: Do Mai 04, 2023 11:53 am
syna, post:1, topic:9807, full:true hat geschrieben: Ich möchte hier keine "dramatischen Untergangsszenarien"
oder "reißerische Floskeln" aufbieten, nur um Gehör zu finden
oder einen "tollen Thread" zu machen.
Nein, ganz anders: Es soll hier nur darum gehen, uns ganz ehrlich
ein bißchen die Zukunft vorzustellen. Die Betonung dabei liegt
auf "ehrlich".
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Die Weltklimakonferenz COP27 ist gerade beendet worden - und
die Ergebnisse sind "mehr als frustrierend" (Annalena Baerbock).
Mojib Latif sagt, dass die 1,5-Grad Marke so nicht zu halten sei,
und dass wir auf 3 Grad zustreben.
Der Klimaforscher Johan Rockström sagt, vielen Diplomaten
sei nicht klar, wann welche Klimafolgen in welchem Ausmaß zu
erwarten seien.
Otto-Normalbürger sieht sich das Ergebnis stirnrunzeln an, und
fragt sich: "**Was bedeutet das für mich**"?
Eine bekannte TAZ-Autorin (korrigiert) hat da schon mal
etwas weiter vorausgedacht. Ulrike Herrmann skizziert in ihrem
Buch "Das Ende des Kapitalismus" realistisch, was passieren
wird. Dazu muss man wissen, dass unser Wirtschaftssystem
auf Wachstum - damit Kredite zurückgezahlt werden können -
aufbaut. Und genau "das mit dem Wachstum" ist das Problem:
Auch das E-Auto wird nicht das heutige Auto ersetzen. WirUlrike Herrmann hat geschrieben: Viele Menschen hängen immer noch dem Irrtum an, dass sie die Wahl
hätten. Doch diese Wahl gibt es nicht. […] Entweder sie verzichten
freiwillig auf Wachstum – oder die Zeit des Wachstums endet später
gewaltsam, weil die Lebensgrundlagen zerstört sind.
machen uns da etwas vor, weil das E-Auto einfach zuviele
Ressourcen verschwendet. Wenn man das alles durchrechnet, dann
sieht man: Das E-Auto ist die totale Sackgasse!
Biokerosine werden so teuer sein, dass auch das Fliegen, sowohl
Kurz- als auch Langstrecke, i.A. nicht mehr möglich sein wird.
Schön zu hören und unterhaltsam ist z.B. dieses Gespräch:Ulrike Herrmann hat geschrieben: Die Industrieländer stehen vor einer Alternative, die eigentlich keine ist.
Entweder sie würden freiwillig auf das Wachstum verzichten oder das
Wachstum ende später gewaltsam, weil die Lebensgrundlagen zerstört
sein werden.
[Interview mit Ulrike Herrmann (DAS)](https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/ ... 29646.html)
Ich habe das Buch noch nicht ganz durchgelesen und alle Berechnungen
noch nicht alle nachgerechnet. Aber bisher hatte sich Ulrike Herrmann
nicht verrechnet. Das heißt dann aber, dass ihre Betrachtungen richtig
sind.
Was bedeutet das für unsere Gesellschaft?
Wie wird die Zukunft konkret aussehen?
Schokolade hat geschrieben:
https://forum.piratenpartei.de/t/klimak ... tisch/9807
Ganz ehrlich muss ich dazu sagen, dass es „die“ Zukunft nicht gibt, sondern:syna, post:1, topic:9807 hat geschrieben: Nein, ganz anders: Es soll hier nur darum gehen, uns ganz ehrlich ein bißchen die Zukunft vorzustellen. Die Betonung dabei liegt auf “ehrlich”.
* Ein Individuum würde sich vielleicht Gedanken über die Möglichkeiten machen, seine Fähigkeiten gemäß eigener Interessen zu entwickeln.
* Als Mitglied einer bürgerlich patriarchalen Familie würde sich die Zukunftsfrage eher auf den Fortbestand der Familie beziehen. Also z.B. die Zeugung männlicher Nachfolger, die Sicherung des Besitzes durch geeignete Heiraten und dergleichen mehr.
* Und als Bestandteil einer identitätsstiftenden Entität, wie Volk oder Nation, wie sie ja zurzeit überall auf der Welt und darum auch hier im Forum als das Nonplusultra gehandelt wird, sind die Zukunftsvisionen eher auf kulturelle Eigentümlichkeiten, völkisch-nationale Souveränität und vergangene große Zeiten ausgerichtet. Also zwischen die Deutschen sterben aus, Amerika First und Großungarn.
https://www.faz.net/aktuell/politik/aus ... 80047.html
Nun stellt der Klimawandel, und das ist ja scheinbar Thema des Threads, ein übergreifendes globales Problem da.
Dazu wäre m.E. zunächst mal festzuhalten, dass es sich beim Klimawandel nicht mehr um ein Zukunftsszenario handelt, sondern dass er für viele Regionen der Erde heute bereits eine schwer zu bewältigende Gegenwart geworden ist.
Den menschengemachten Klimawandel abzuwenden, ist daher nicht mehr möglich. Möglich ist vermutlich weiteres Fortschreiten zu verhindern und seine Auswirkungen abzumildern.
Der auf der letzten Klimakonferenz beschlossene Font zur finanziellen Unterstützung der durch den Klimawandel besonders betroffenen Regionen ist da schon mal recht hilfreich, wenn auch der von den Grünen(+Spd) angepeilte Beitrag Deutschlands in Höhe von einigen läppischen Millionen Euro eine Frechheit und Farce darstellt.
Als Lösung der Klimaproblematik wird von @syna die Argumentation der Autorin Ulrike Herrmann vorgetragen.
Sie sieht die Ursache im Wirtschaftswachstum, das sie als treibendes Element des Kapitalismus beschreibt und argumentiert dann mit der heute vielfach strapazierten, tautologischen These „In einer endlichen Welt kann es kein unendliches Wachstum geben.“
Diese, oberflächlich betrachtet, schlüssige Argumentation wird aber bei genauer Betrachtung fadenscheinig.
Zunächst mal ist Kapitalismus eine Gesellschaftsordnung, die dadurch geprägt ist, dass Privatmenschen ihr Kapital einsetzten, um es „produktiv“, also durch Akkumulation, zu vermehren. Diesen individuellen Prozess auf eine ganze Gesellschaft zu übertragen, ist m.E. unzulässig.
Ein Einzelunternehmen kann prinzipiell auch wachsen, ohne dass die Gesamtwirtschaft wächst. Zurzeit sehr schön zu sehen bei den Gewinnen der Unternehmen im Bereich fossiler Energieversorgung.
Überdies ist Wachstum aus Sicht des Einzelunternehmens mit der volkswirtschaftlichen Betrachtung völlig inkompatibel.
Länder wie Indien oder China setzen nicht auf Wachstum, um wie @Syna mutmaßt, irgendwelche Kredite zurückzuzahlen
sondern um die Versorgung der eigenen Bevölkerung zu verbessern und so dem einzelnen Menschen – genauer gesagt den eigenen Staatsbürgern - bessere Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten zu offerieren.syna, post:1, topic:9807 hat geschrieben: Dazu muss man wissen, dass unser Wirtschaftssystem auf Wachstum - damit Kredite zurückgezahlt werden können - aufbaut.
Auch anhand dieser volkswirtschaftlichen Zielsetzung ist erkennbar, dass es sich bei Nationalstaaten nicht um kapitalistische Systeme handelt, sondern um sozialistische. Zur Wirtschaftssteuerung (Planung?) werden mehr oder weniger viele marktwirtschaftliche Elemente und Methoden genutzt. Aber über allem thront eine staatliche Ordnung, eine Rechtsordnung. Privatisieren und Verstaatlichen sind feste Optionen in der Wirtschaftssteuerung eines modernen Staatswesens.
Wir können festhalten, dass ein einzelnes Unternehmen seine Prosperität auf dem Markt verfolgt, während eine Volkswirtschaft die Versorgung „ihrer“ Bürgerinnen im Blick hat.
Nun geht Frau Herrmann noch einen Schritt weiter, sie individualisiert den Begriff Wachstum (und damit die Klimaproblematik).
Ihre Argumentation bewegt sich also von der produktiven Verwertung des individuellen Kapitals, der sogenannten Akkumulation, über die volkswirtschaftliche Versorgung der Gesellschaft zum privaten individuellen Konsumbedürfnis.>Viele Menschen hängen immer noch dem Irrtum an, dass sie die Wahl
> hätten. Doch diese Wahl gibt es nicht. […] Entweder sie verzichten
> freiwillig auf Wachstum – oder die Zeit des Wachstums endet später
> gewaltsam, weil die Lebensgrundlagen zerstört sind.
*(oh... oh .. , ich höre hier schon wieder jemanden „Rabulistik!“ rufen)*
Dieses begriffliche Kuddelmuddel lässt Ansätze in alle Richtungen offen.
So gibt es, wie Frau Herrmann erklärt, für viele Menschen nur die Wahl freiwillig auf Wachstum zu verzichten oder gewaltsam zum Verzicht gezwungen zu werden.
Hinter solchen Vorstellungen verbirgt sich, nebenbei gesagt, die Idealisierung der Gesellschaft, da alle Menschen, ob Obdachlos oder Villenbesitzerin, gleichgemacht werden. Gleichzeitig reduziert diese Vorstellung das globale Problem auf eine Nation, in der Regel die der Betrachterin.
Da der Übeltäter, nach Frau Herrmann, das Wirtschaftswachstum schlecht hin ist, kann die Welt nur gerettet werden, indem es gestoppt wird. So schlägt sie in dem von @syna verlinkten Gespräch vor, dass die Gesellschaft auf den Wohlstandslevel von 1970- 1980 zurückgestutzt werden sollte. Wie das konkret aussehen soll, sagt sie dabei nicht.
In Berlin wurde damals z.B. viel mit Kohle geheizt. Smog im Winter war nichts Ungewöhnliches. Röhrenfernseher und Röhrenradio waren sicherlich keine Energiesparer, das Handy hatte eine lange Leitung und eine 100-Watt-Glühbirne verbrauchte wirklich 100 Watt.
Zur Lösung des Rückentwicklungsprozesses schlägt sie vor, sich an der englischen Kriegswirtschaft in den 40er Jahren zu orientieren. Damals hätten alle Engländer, ob reich oder arm, denselben reduzierten Zugang zu den Konsumgütern bekommen, der über Lebensmittelmarken, Bezugskarten u. dgl. m. geregelt wurde. Alle waren glücklich, weil es allen gleich gut ging, so ungefähr Frau Herrmann.
Ihre Vision:
Ein starker Nationalstaat, der mindestens das Konsumverhalten des Einzelnen komplett überwacht. Da schlägt ein sensibles Piratenherz Amok.
Ihre Lösung ist ein Organisationsmodell, dessen Stärke unbestritten von Anfang bis Mitte-Ende des letzten Jahrhunderts bestanden hatte, das als „Diktatur des Proletariats“ eine Klassengesellschaft abbildete und sich durch Kontrolle des Menschen durch Institutionen auszeichnete.
Die Volksgemeinschaft züchtigte im Ideal des „normalen Menschen“ das Individuum. Die individuelle Freiheit ist der Feind des Volkskörpers.
Kontrolle des Verbrauchers durch starke, nationalstaatliche Institutionen ist also Frau Herrmanns Lösung eines globalen Problemfeldes.
Mit der Reduzierung auf den Verbraucher zeigt sich auch, dass die anfangs behauptete Ursache, der Kapitalismus, offensichtlich nicht weiter interessant ist.
Zurück zu den 70ern, solche naiven Vorstellungen basieren auf undifferenzierter Herangehensweise an ein globales Problemfeld.
Ich will auf Frau Herrmanns Überlegungen hier jetzt nicht weiter eingehen. Sie sind, wie gezeigt, schon im Ansatz irrig. M.E. kann ein Problem nicht innerhalb der es verursachenden Strukturen gelöst werden.
Die Zukunft versteckt sich nicht im Gestern, aber das Gestern und Heute liefern Fingerzeige, wie die Zukunft ausgestaltet werden könnte.
Die Menschheit muss sich neu organisieren.
Noch mal kurz zurück zum Wachstum.
Das Wirtschaftswachstum in Kapitalismus und Sozialismus bezog sich auf die materielle Produktion. Reproduktionsarbeit, also Erziehung des Nachwuchses, Krankenversorgung usw. war dagegen ein Kostenfaktor und wurde meist von Frauen kostenlos erbracht.
Die heutige Wirtschaft ist dagegen ganz anders aufgestellt. Die Reproduktionsarbeit ist mittlerweile Bestandteil derselben.
Auch das wäre ein Grund, „Wirtschaftswachstum“ differenzierter zu betrachten.
Und, Menschen, die sich nicht wie Frau Herrmann mit ihrem Hintern auf die deutsche Fahne geklebt haben, müssten einsehen, dass angesichts des global grassierenden Elends ein gewisses Wirtschaftswachstum heute noch notwendig ist.
Von den rund 200 Nationen, in die die Menschheit gegenwärtig zerfällt, versuchen sich zurzeit etliche aus dem Sumpf, in den die „Entwicklungshilfe“ der westlichen Industrienationen sie getrieben hat, zu befreien. Und leider strampeln sich dabei die meisten gegeneinander frei und die Industriestaaten tun ihr bestes, Konflikte überall auf der Welt zu fördern. Nichts ist hilfreicher als ethnische oder religiöse Unterschiede zu instrumentalisieren.
Zurück zum Thema.
Anstatt die Konsumenten zu quälen wäre es m.E. sinnvoller, die Produktion in Augenschein zu nehmen. Das würde die individuelle Freiheit schützen und gleichzeitig gesellschaftlichen Einfluss auf die Klimaauswirkungen gestatten.
Die Unternehmen müssten demokratisiert werden, Betriebsgeheimnisse und Patente sollten auf den Schutthaufen der Geschichte. Transparenz und Schwarmintelligenz sollten in die Produktion einziehen. Die Wirtschaft müsste anarchistisch organisiert werden.
Konzeptionell sollte der Grundsatz verfolgt werden, dass jedem Menschen das Recht auf Entwicklung seiner Fähigkeiten gemäß seiner Interessen sowie die Gestaltung seines Lebens nach eigenen Gutdünken zusteht. (globales BGE)
Es gibt m.E. keine Lösung der Klimaproblematik ohne eine Lösung der globalen sozialen Frage.
Für die progressiven Kräfte wäre es an der Zeit, Nationalismus zu überwinden und der individuellen Freiheit zum globalen Durchbruch zu verhelfen.
Es bedarf einer politischen Bewegung, die sich jenseits von AFD, die ja bekanntlich die deutsche Identität und Kultur retten will und auch jenseits von Fachpersonal, das die ukrainische Identität und Kultur retten will, wie es u.a. hier im Forum lautstark alles andere Denken niedermacht,
einer politische Bewegung, die sich auf globale Kollaboration der Menschen versteift.
Es sind also zwei Stränge notwendig. Erstens die Demokratisierung der Wirtschaft und zweitens die Überwindung der Nationalstaaten durch globale Kollaboration.
Hier ein interessanter Vortrag zur Demokratisierung der Wirtschaft und Globalisierung "linker" Politik. (Sie will auch den Kapitalismus abschaffen, aber hat vernünftige Argumente)
[Vergesellschaftungskonferenz Eröffnungspanel: Bini Adamczak](https://www.youtube.com/watch?v=jKme9Cf_4zE)
[Und hier was zum Elektroflugzeug](https://www.youtube.com/watch?v=4YX8unEoXgU)
Apropos AFD-Argumente, wer welche findet, darf sie behalten.