Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen des SPD-Unterbezirks Chemnitz
Chemnitz, im Februar 2007
A f A – D e n k z e t t e l Nr. 1/07
Offener Brief an Franz Müntefering:
Agenda 2010 und „Bedingungsloses Grundeinkommen“
1. Die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens für alle Teilhaber an einem weiter entwickelten sozialen Rechtsstaat beherrscht die aktuelle sozialpolitische Debatte – jedenfalls bei denen, die sich bemühen, über den Tellerrand der laufenden Legislaturperiode hinauszuschauen.
Die FDP mag in Deutschland eine Art Urheberrecht an dieser Idee haben. Auch der Thüringer CDU-Ministerpräsident Althaus gehört zu ihren Verfechtern. Und nun haben die Grünen auf ihrem jüngsten Parteitag ebenfalls dafür votiert. Dennoch gehört das „bedingungslose Grundeinkommen“ immer noch zu den Unwörtern, die ein „seriöser“ Politiker in der SPD öffentlich nicht gerne in den Mund nimmt. Schlaraffenland! Arbeitsethik! Unbezahlbar! Das sind die Kampfbegriffe, die dagegen ins Feld geführt werden.
Niemand möchte als Utopist gelten. Und in der Tat: die bisherige Debatte hatte etwas Utopisches – so als sei das „bedingungslose Grundeinkommen“ von einem anderen Stern und in unserer Wirtschaftsgesellschaft nicht ohne einen „radikalen Systembruch“ zu haben.
2. Dabei hat die Agenda 2010 mit der Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe schon den halben Weg dahin zurückgelegt. Eine vernünftige Weiterentwicklung und eine ehrliche Korrektur ihrer Fehler führt zwangsläufig zu einer Grundversorgung aller Bürger ohne verfassungsrechtlich bedenkliche und demütigende Schikanen.
Die Fehler der „Agenda 2010“ sind eine Folge der scheinbar so einleuchtenden Parole „Fördern und Fordern“. Diese Parole hatte ihren Charme, solange man noch guten Gewissens daran glauben konnte, Vollbeschäftigung sei wieder erreichbar, wenn nur die Arbeitsvermittlung effizienter arbeiten könnte und wenn alle Arbeitslosen sich ehrlich um eine Beschäftigung bemühen würden. Dies war die ausdrückliche Prämisse von „Hartz IV“.
Wenn aber nun die Entwicklung der Arbeitsproduktivität infolge des technischen Fortschritts längst einen Stand erreicht hat, mit dem die ersehnte Vollbeschäftigung von Jahr zu Jahr unwahrscheinlicher wird, ist es (auch im gegenwärtigen Konjunktur-Frühling!) Zeit zum Umdenken. Denn eine Idee findet ihren Weg, wenn die Zeit reif dafür ist; sie fragt nicht nach Parteibüchern.
Deshalb sind wir dafür, dass die SPD sich besinnt und versucht, ihre Grundsätze in die praktische Umsetzung dieser Idee einzubringen und es nicht auf ein “Bürgergeld“ im Sinne des Neoliberalismus ankommen zu lassen. Denn in der Idee des Bürgergelds kann auch eine gesellschaftsschädliche Tendenz stecken: „Mit dem Bürgergeld sind alle sozialen Probleme auf einen Schlag gelöst, also soll der Bürger sehen, wie er alleine zurecht kommt…“
3. Die Grundsicherung für Arbeitssuchende nach SGB II ist kein „Schlaraffenland“.
Sie entspricht den statistischen Berechnungen der 90er Jahre zum soziokulturellen Existenzminimum des Sozialhilferechts, das schon aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht unterschritten werden kann. Eine Anpassung an das aktuelle Preisniveau ist überfällig (vgl. DIE ZEIT vom 28.12.2006, S. 28!). Es sei jedem aktiven Politiker als lehrreichen Schnellkurs zur Selbstfindung empfohlen, einmal einen Monat lang nur mit dem Arbeitslosengeld II auskommen zu müssen …
Die Ideologie des „Förderns und Forderns“ hat aus der Grundsicherung eine Art Almosen gemacht, das sich der Bedürftige durch Wohlverhalten erst verdienen muss. Der Arbeitssuchende soll sich aktiv um einen Arbeitsplatz bemühen, den es nur für einen geringen Bruchteil der Bewerber geben kann. Dennoch: Wer sich nicht so verhält, wie es sein Betreuer bei der Agentur für Arbeit erwartet, muss mit drastischen Leistungskürzungen rechnen (lesen: § 31 SGB II, jüngst erst verschärft durch das „Fortentwicklungsgesetz“ vom Juli 2006).
Damit wird dem Arbeitslosen gerade die Grundsicherung, also das finanzielle Äquivalent des soziokulturellen Existenzminimums, zu 30, 60 oder gar 100 Prozent vorenthalten. Er wird im günstigsten Fall auf mehr oder weniger hinreichende Natural-Leistungen verwiesen, im ungünstigeren Fall bedeutet dieser Leistungsentzug Wohnungslosigkeit, Bettelei, Drogen-Kleinhandel, Diebstahl oder Prostitution, von Schwarzarbeit gar nicht zu reden.
Das Bestreben, die Kosten der sozialen Sicherung möglichst komplett auf die Angehörigen der Bedürftigen abzuwälzen, ist in der Geschichte des Sozialhilferechts tief verankert. Nun aber treibt diese Strategie angesichts des Massenphänomens Arbeitslosigkeit immer groteskere Blüten: Wann müssen Eltern für ihre erwachsenen, aber arbeitslosen Kinder aufkommen, wann die Kinder für ihre arbeitslosen Eltern? Was ist eine eheähnliche Gemeinschaft? Setzt sie ein gemeinsames Schlafzimmer voraus? Und was ist mit gleichgeschlechtlichen Schlafzimmern??
Gerade hier stehen die Kosten einer flächendeckenden Überprüfung in keinem Verhältnis zu der möglichen Ersparnis. Als Kollateralschaden werden menschliche Bindungen aller Art (Familien, Freundschaften usw.) korrumpiert und bleiben schlicht auf der Strecke. Für den Arbeitssuchenden gilt: Bloß keine Fakten schaffen, die als „Bedarfsgemeinschaft“ beurteilt werden können! Jedenfalls: sich nicht dabei erwischen lassen …
Ein gigantischer juristischer Apparat wurde geschaffen, laufend ausgebaut und verschärft, um „Leistungsmissbrauch“ einzudämmen. Die Mitarbeiter der Agenturen für Arbeit werden gezwungen, ihre Aufmerksamkeit und Arbeitskraft überwiegend nicht der Hilfe für die Bedürftigen zu widmen, sondern mit Härte und Scharfsinn „Leistungsbetrüger“ zu entlarven.
Man weiß ja: man erwischt nur wenige. Also müssen die Pechvögel um so mehr büßen für die Vielen, die mutmaßlich unerkannt durch die Maschen schlüpfen. (Bei den Strafrechtlern nennt man das „Generalprävention“). Also, wenn sich ein Verdachtsfall zeigt: Ab zur Staatsanwaltschaft! Es ist schlimm genug, dass es eine „Unterschicht“ gibt. Aber schlimmer noch sind in einem angeblich sozialen Rechtsstaat Verhältnisse, welche dazu führen müssen, die „Unterschicht“ der offiziell 10 Prozent Arbeitslosen auch noch massenhaft zu kriminalisieren.
Viele Verschärfungen z. B. des SGB II seit dem In-Kraft-Treten des ursprünglichen Gesetzeswerks gehen in diese Richtung: Die Grundsicherung des SGB II ist teurer als erwartet, also müssen die Hürden auf dem Weg zu einer Inanspruchnahme erhöht und die Sanktionen für angeblichen Leistungsmissbrauch verschärft werden. Ohne Rücksicht auf die Kosten.
Ein Beispiel: Dass Arbeitssuchende mobil sein müssen, ist unbestritten. Sie müssen ja im weiten Umkreis mögliche Arbeitsplätze erreichen können, also brauchen sie einen fahrbaren Untersatz. Aus Kreisen des Koalitionspartners CSU ist dazu die Idee bekannt geworden, die Arbeitssuchenden durch „Vermögensanrechnung“ zu zwingen, ihre schönen Autos zu verkaufen und bescheidenere Vehikel anzuschaffen … Auch hier hat noch niemand an die Kosten gedacht, die allein durch eine gerichtsfeste Bewertung der vielen hunderttausend Gebrauchtwagen entstehen. Arbeitsbeschaffung für Kfz-Gutachter?
Die Verwaltungskosten der Arbeitsagenturen für Überwachung und Kontrolle der Leistungsempfänger, die alle denkbaren Ersparnisse in den Schatten stellen, sind dabei noch das geringste Übel. Viel teurer kommen für die Gesellschaft die bleibenden Schäden beim sozialen Zusammenhalt. Am schädlichsten sind dabei die Fernwirkungen: Weil Arbeitslosigkeit praktisch den Verlust der Menschenwürde bedeutet, tun die noch Beschäftigten buchstäblich alles – und wenn es sein muss, noch ein bisschen mehr ! – um diesem Schicksal zu entgehen. Nicht nur unbezahlte Überstunden, klaglose Hinnahme von Gehaltskürzungen usw., sondern massenhafte Duckmäuserei, Angeberei und Denunziation von Arbeitskollegen, auch das Wegsehen bei Rechtsverstößen des Vorgesetzten oder des Arbeitgebers (Gammelfleisch- und Schwarzgeldaffären sind hier nur Spitzen des Eisbergs) – das sind die schlimmeren Folgen.
4. Lange wird die SPD auf diesem Irrweg nicht mehr fortschreiten können. Sie wäre schon bald zum Scheitern verurteilt.
Dabei wäre es so einfach, aus dem SGB II die sozialschädlichen Vorschriften zu entfernen, die der Grundidee eines Rechtsanspruchs auf ein gesichertes Existenzminimum entgegenstehen. Zu streichen sind jedenfalls die Vorschriften über die Bedarfsgemeinschaft, die Vermögensanrechnung und die Leistungskürzungen bei „Fehlverhalten“ (§ 31 SGB II). Das wird nicht billig sein, aber machbar. Der Ausgleich ist in einem weiter entwickelten Einkommensteuerrecht zu finden: Wer Grundsicherung bezieht, aber über anderweitiges Einkommen verfügt, zahlt einen höheren Steuersatz auf dieses Einkommen.
Von den utopischen Vorstellungen der Verfechter des „bedingungslosen Grundeinkommens“ wären wir damit noch weit entfernt. Aber wir hätten ein Tor zu einer humaneren Gesellschaft aufgestoßen.
Alles Weitere bliebe der wirtschaftlichen Entwicklung vorbehalten. An einer periodisch fälligen Anpassung der Grundsicherung an ein menschenwürdiges „soziokulturelles Existenzminimum“ kommt man ohnehin nicht vorbei, allein um die Geldentwertung, beispielsweise durch die erhöhte Mehrwertsteuer oder die gestiegenen Öl- und Gaspreise auszugleichen. Ob es Spielräume für ein „Mehr“ gibt, wird man sehen. Jedenfalls sind die ersparten Verwaltungskosten für Überwachung und Kontrolle der Leistungsempfänger für Leistungsverbesserungen sofort verfügbar. Die Mitarbeiter der Agenturen für Arbeit werden damit nicht überflüssig – sie werden wieder frei für ihre eigentliche Aufgabe: die Betreuung und Beratung der Arbeitssuchenden und die Vermittlung von Arbeit, die wieder ihren Namen verdient.
5. Die Arbeitsethik bleibt natürlich erhalten. Richtig ist: Der Zwang wird geringer, um jeden Preis eine beliebige Beschäftigung anzunehmen. Schon heute wirkt ja die Grundsicherung wie ein minimaler Mindestlohn, zugleich auch als faktischer Kombilohn für die „Aufstocker“ (§ 30 SGB II). Ein gesicherter Rechtsanspruch auf eine solche Grundsicherung ohne Schikanen verstärkt nur diese Tendenz. Der menschliche Antrieb, es zu mehr zu bringen als zu dem gesetzlich garantierten Grundeinkommen, wird ungebrochen bleiben. Aber der Arbeitssuchende kann dem Arbeitgeber wieder „auf Augenhöhe“ gegenüber treten. Das hat natürlich Folgen für die Tarifpolitik. Sozialdemokraten sollten dies begrüßen. Aufgeklärte Arbeitgeber nicht minder. Zwangsarbeit ist nämlich nicht nur unmoralisch und rechtswidrig (Art. 12 Abs. 2 GG), sondern letzten Endes auch unwirtschaftlich.
6. Freiwilliges bürgerschaftliches Engagement und ehrenamtliche Tätigkeiten werden durch eine Grundversorgung aller Bedürftigen ohne Schikanen nicht verhindert, sondern unterstützt. Es wäre gerade aus der Sicht der Träger solcher Aktivitäten – Kommunen, Vereine usw. – grundfalsch, ein solches Engagement mit Zuckerbrot und Peitsche erzwingen zu wollen. (Die Idee eines leistungsabhängigen Bürgergelds an Stelle der Grundsicherung ist daher abzulehnen). Über angemessene Aufwandsentschädigungen über die Grundsicherung hinaus wird man reden können.
7. Die derzeitige Exportkonjunktur kann sich schnell verflüchtigen. Alle Experten bemängeln die weiterhin schwache Binnen-Nachfrage. Eine verlässliche Grundversorgung für alle Bürger sichert und verstetigt die Nachfrage und stützt damit die Wirtschaft – und nicht zuletzt die Beschäftigung!
Noch eine Randbemerkung für Ökonomen: Ein zusätzlicher Euro in der Hand eines Arbeitslosen ist mehr wert als in der Hand eines Landgerichtsdirektors, und wiederum mehr wert als in der Hand eines Ackermann (Grenznutzenlehre: Erstes Gossensches Gesetz). Ergänzende Bemerkung: Dieser zusätzliche Euro in der Hand des Arbeitslosen fließt sofort in den Wirtschaftskreislauf zurück und wird kaum jemals abgezweigt, um im Paralleluniversum der globalen Finanztransaktionen zu verschwinden …
8. Die Grundversorgung als Rechtsanspruch ohne Schikanen ist kein Wundermittel, welches alle sozialen Probleme löst. Die gesetzliche Sozialversicherung, insbesondere die Krankenversicherung, bleibt natürlich unentbehrlich. Denn die sozialen Risiken bleiben bestehen; sie sind ungleich verteilt und unvorhersehbar. Das gilt uneingeschränkt für die Kranken- und Pflegeversicherung. Auch die Rentenversicherung und die Arbeitslosenversicherung werden nicht überflüssig. Hier kann immerhin eine vernünftig bemessene Grundversorgung dazu beitragen, die beitragsfinanzierten Versicherungsleistungen zu verringern und damit auch die Beitragslasten (also die Lohnnebenkosten) zu mildern.
Es wird eine der vornehmsten Aufgaben der Sozialdemokratie sein, darüber zu wachen, dass die bewährten Strukturen der gesetzlichen Sozialversicherung nicht den marktradikalen Verfechtern des „Bürgergelds“ zum Opfer fallen, die glauben, damit alle weiteren sozialen Leistungen als veraltet und überflüssig über Bord werfen zu können.
i. A. Bernhard Weismann