http://www.labournet.de/diskussion/arbe ... n_buch.pdf
.Der Kongress 1982
Tosender Beifall begleitete die Berichterstatterin der Arbeitsgruppe VIII zum "Begriff der Arbeit", als sie die Ergebnisse ihrer Diskussionen auf dem Abschlußplenum vortrug. Wir schreiben das Jahr 1982 und befinden uns auf dem 1. Arbeitslosenkongreß in Frankfurt/M.
Nach Jahren kontinuierlicher Arbeitslosigkeit, mit der Bildung von Arbeitslosengruppen in vielen Städten und Landkreisen in Deutschland, formulierte sich ein starkes Bedürfnis nach bundesweiter Zusammenarbeit und öffentlicher Präsenz. Resultat war die Organisierung des Frankfurter Kongresses.
Die damals, besonders in sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Kreisen, vorherrschende Forderung nach einem "Recht auf Arbeit" stieß auf breite Kritik bei den VertreterInnen der unabhängigen Erwerbslosen- und Jobberinitiativen. Für sie endete das "Recht auf Arbeit" in eine Lohnarbeit um jeden Preis. Stattdessen forderten sie ein Recht auf eine gesicherte Existenz für alle.
"Offenbar ist Arbeit nur dann Arbeit, wenn sie Profit einbringt und systemstabilisierend ist. Wir müssen unserer Meinung nach neu darüber nachdenken, was wir, wie wir und unter welchen Bedingungen wir produzieren wollen ... Wir sollten unseren neuen Begriff von Arbeit auch politisch offensiv vertreten. Wenn Umweltschützer die Startbahn West verhindern, dann ist das Arbeit; wenn "Arbeitslose" sich in Arbeitsloseninitiativen zusammenschließen, dann ist das Arbeit; wenn Hausfrauen einen Fleischboykott organisieren, für mehr Kindergartenplätze demonstrieren, ist das Arbeit. Nur - und das ist das Dilemma - dafür kriegen wir keine Knete... Sollten wir deshalb aus dem Reich dieser Ideen wieder auf den Boden der unerfreulichen Tatsachen herabsteigen?"
Ein Teil der KongreßteilnehmerInnen fühlte sich eher den Auffassungen Paul Lafargues verbunden, der bereits 1848 ironisch schrieb: "Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zivilisation herrscht, eine Sucht, die das in der modernen Gesellschaft herrschende Einzel- und Massenelend zur Folge hat. Es ist die Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht. Statt gegen diese geistige Verirrung anzukämpfen, haben die Priester, die Ökonomen und die Moralisten die Arbeit heiliggesprochen."
Die Auseinandersetzung über den herrschenden Arbeitsbegriff bzw. der real existierenden Lohnarbeit durchlief den gesamten Kongreß und war Grundlage der später konzipierten Forderung nach einem Existenzgeld.
Die soziale Realität von prekär Beschäftigten (die damals als JobberInnen durchaus bewußt in solcherart Tätigkeiten eintauchten) sowie eines Teils der Erwerbslosen ließ den eigenen politischen Blickwinkel auf Alternativen jenseits der Lohnarbeit, aber auch jenseits des traditionellen Klassenkampfes zu. Dies auch deshalb, weil Forderungen der Erwerbslosen in Tarifauseinandersetzungen oder Streiks nirgends eine Rolle spielten, während umgekehrt Arbeitslose in nicht wenigen Fällen praktische Solidaritätsarbeit zur Unterstützung von Arbeitskämpfen leisteten.
Provokativ und selbstbewußt setzte die Hamburger "Initiative Arbeitsloser-Sozialhilfeempfänger-Jobber-Ausländer" gegen den Anspruch nach Arbeit für alle, die Forderung: " Wir wollen 1500 DM für Alle (mit Inflationsausgleich und keine faulen Tricks)." Erstmals stellten Erwerbslose das eherne Gesetz des Arbeitens um jeden Preis in Frage und traten mit einer Forderung an die Öffentlichkeit, die die bisherigen Diskussionen zum Thema Arbeitslosigkeit und Armut durcheinanderwirbelten. Aber bereits diese Provokation nach 1500 DM ohne lohnzuarbeiten beinhaltete, neben der Kritik an der kapitalistischen Arbeit, auch einen systemsprengenden Aspekt, denn weitergedacht bedeutete diese Forderung eine grundlegende Veränderung der politischen und sozialen Verhältnisse, in Verbindung mit der kollektiven Inanspruchnahme des bisher individuell angeeigneten Reichtums. Dieser Anspruch auf das gesellschaftliche Ganze prägte die weitere Diskussion innerhalb der Erwerbsloseninitiativen bis heute und drückte sich 1985 auf den "Zentralen Aktions- und Konferenztagen" der norddeutschen und westberliner Erwerbslosen-Initiativen in Hamburg so aus:
"1. Sind wir nicht länger bereit, das derzeit herrschende System des Lohnarbeitszwangs zu akzeptieren, das uns unter dem Druck der Massenarbeitslosigkeit jede Form und Bezahlung der Arbeit zumuten will, die sich die Unternehmen einfallen lassen!
2. Sind wir nicht länger bereit, bei unserer Forderung nach einem menschenwürdigen Leben Rücksicht auf den Bestand und die Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen zu nehmen. Wenn das System in seiner heutigen Form die Sicherung unser Existenz nicht aushält, dann muß es verändert werden!"
Für die damals im norddeutschen Raum sehr aktiven Erwerbslosen- und Jobbergruppen hatte die Existenzgeldforderung auch eine praktische Aussage. "Als unmittelbare Umsetzungsschritte wurde die konsequente Ausnutzung aller staatlichen Transferleistungen ('vollständiges Ausnutzen der sozialen Hängematte') ebenso vorgeschlagen wie direkte Aneignungsaktionen: Selbstbedienung in Supermärkten oder am Arbeitsplatz, Nulfahraktionen in öffentlichen Einrichtungen und Schwarzfahren oder auch Versicherungsbetrug, eigenständige Mietkürzungen und Stromklau."
Ihre Kämpfe für ein "besseres Leben" verdeutlichten am besten, das der Existenzgeldforderung innewohnende dialektische Verhältnis. Einerseits die mögliche Entkoppelung von Arbeit und Einkommen sowie die Gleichwertigkeit von Lohn- und Haus/Reproduktionsarbeit unter dem Blickwinkel der revolutionären Umwälzung der Gesellschaft voranzutreiben und andererseits die Forderung "als praktische Aneignungsbewegung" zu verstehen.